Sein Kind mit dem andern Elternteil in die Ferien lassen (Fallbeispiel)
Frau R., Schweizerin, ist 32-jährig. Sie hat mit Herrn F., Marokkaner, einen 4-jährigen Sohn. Seit 2 Jahren leben sie getrennt. Herr F. sieht seinen Sohn jedes zweite Wochenende, ohne Übernachtung. Nun möchte er mit seinem Sohn in den nächsten Ferien für 4 Wochen nach Marokko reisen und seine Familie besuchen. Frau R. fällt aus allen Wolken, als Herr F. ihr dies mitteilt. Sie hat Bedenken ob der Vater für das Kind sorgen kann, wo er ihn seit der Trennung doch nur alle 2 Wochen sieht. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr hat sie auch Angst davor, dass er mit dem Kind von den Ferien nicht mehr zurückkommen könnte.
Ängste, sein Kind mit dem/r Ex-Partner/in allein in dessen Herkunftsland gehen zu lassen, kommen bei getrenntlebenden oder geschiedenen Frauen und Männern, die in einer binationalen Beziehung lebten, öfter vor als bei Eltern gleicher Herkunft. Was kann Frau R. tun? Sie lässt sich bei einer Beratungsstelle beraten. Zusammen mit der Beraterin macht sie sich Gedanken zu folgenden Fragen: Was ängstigt mich? Was löst meine Ängste aus? Habe ich objektive Hinweise, die die Ängste begründen? Was ist gut für unser Kind? Könnte es von dieser Reise profitieren? Welche rechtlichen Aspekte sind zu berücksichtigen?
Frau R. ängstigt sich vor allem, dass das Kind in den Ferien nicht gut versorgt sein könnte und dass Herr F. möglicherweise eine Kindesentführung plant. Bei näherem Hinsehen wird ihr jedoch klar, dass der Vater in Marokko nicht allein mit dem Kind sein wird, sondern die meiste Zeit mit der Familie verbringen wird. Frau R. kennt die Familie von früheren gemeinsamen Besuchen und weiss, dass die Eltern von Herrn F. sehr kinderliebend sind und alles für Ihren Enkel machen würden. Im Gespräch wird ihr auch klar, dass sie froh war, dass das Kind bisher nicht bei ihm übernachtet hat, es jedoch an der Zeit ist, dem Vater die Möglichkeit zu geben, mehr Verantwortung für den Sohn zu übernehmen. Frau R. findet auch heraus, dass sie es eigentlich begrüsst, wenn ihr Kind einen Bezug zum Herkunftsland seines Vaters hat. Es kann für die Identitätsentwicklung des Kindes sehr wichtig sein, die Kultur beider Elternteile kennen zu lernen. Auch könnte die Reise die Beziehung zum Vater stärken.
Frau R. wird bewusst, dass Sie selbst etwas dazu beitragen kann, um dem Vater die Möglichkeit zu bieten, Verantwortung für das Kind zu übernehmen, was sie sich ja eigentlich auch wünscht. Sie nimmt sich vor, ihrem Ex-Partner mehr Zeit mit dem Kind zuzugestehen. Die Angst, er könnte mit dem Kind in Marokko bleiben, dauert unterschwellig jedoch fort.
In der Beratung wird ihr ebenfalls klar, dass eine Aussprache mit dem Vater ihres Kindes helfen könnte, eine für das Kind gesunde Vertrauensbasis zwischen ihnen zu schaffen. Dies würde aber voraussetzen, dem Vater mehr Rechte zuzugestehen und Kompromisse in Bezug auf unterschiedliche Wert- und Erziehungsvorstellungen einzugehen. Frau R. entscheidet sich, mit ihrem Exmann gemeinsam in eine Beratung zu kommen, um über ihre Ängste zu sprechen und ihn zu fragen, was er als Vater für Wünsche und Vorstellungen hat. In einem gemeinsamen Gespräch äussern beide ihre Ängste und Wünsche und diskutieren über allfällige Kompromisse. Die Beraterin hilft ihnen, den Fokus stets auf dem Kind zu behalten. Herr F. teilt mit, dass er gerne mehr Verantwortung und Betreuung übernehmen möchte. Ihm ist es wichtig, dass das Kind sein Heimatland und seine Familie kennenlernt, damit er seinen Vater besser versteht, wenn er gewisse Dinge im Leben anders regelt oder lebt als es vielleicht Schweizer, resp. seine Mutter tut. Dass Herr F. über Frau R.’s Ängste und Befürchtungen sehr überrascht reagiert, beruhigt Frau R. Sie bemerkt, dass es neben all den Befürchtungen in Bezug auf den Vater auch um ihre eigene Angst geht, das Kind 4 Wochen lang nicht zu sehen. Als sie dies äussert, macht ihr Mann den Vorschlag, von den Ferien aus regelmässig mit ihr zu skypen, damit sie weiss, dass es dem Kind gut geht. Beide sind über ihre Aussprache erleichtert und nehmen sich vor, dies öfters zu tun.
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